Porträt – Warum Wataru Endo so gut ist

Nach 20 Spieltagen gilt der VfB Stuttgart als eine der Überraschungsmannschaften der Bundesliga: Mit 25 Punkten belegt man den zehnten Platz. Wie es bei vermeintlichen „Underdogs“ so üblich ist, wird von einer Teamleistung gesprochen, wobei einzelne Protagonisten (zurecht) hervorgehoben werden.

Die Kreativität von Trainer Pellegrino Matarazzo, die unheimliche Durchschlagskraft von Silas Wamangituka oder die Torgefährlichkeit von Nicolás González – der VfB Stuttgart hat einiges zu bieten. Und doch ist der beste und vor allem wichtigste Spieler der Mannschaft aus meiner Sicht ein anderer: Wataru Endo.

Wataru Endo Sechser

Der 1,78m große Japaner ist bei den Stuttgartern im zentralen defensiven Mittelfeld zuhause. Seine Aufgabe im Mannschaftskonstrukt des Aufsteigers? Das Spiel besser machen. Und genau das gelingt Endo so gut wie kaum einem anderen Spieler in der Bundesliga.

Bewegungsspiel in Ballbesitz

Der Sechser tut dem Spiel der Stuttgarter unheimlich gut, weil er und seine Positionierung immer eine Funktion haben – auch, wenn er nicht den Ball hat oder sich dafür freiläuft. Das ist bei den Schwaben sehr wichtig, da sich Castro und Didavi ziemlich frei bewegen. Dem japanischen Nationalspieler kommt dann die Aufgabe zu, diese Bewegungen auszubalancieren: Lassen sich Castro oder Didavi (oder auch Mangala) fallen, schiebt Endo sofort hoch und schafft so Raum für seine Mitspieler.

Bewegen sich viele Spieler auf links, bewegt sich der Japaner eher nach rechts und andersherum. Oft hört man als Kompliment über Spieler, diese seien quasi „immer anspielbar“. Das kann mit Sicherheit auch eine positive Eigenschaft sein, Endo jedoch führt das ganze noch weiter. Seine Qualität ist, die Struktur der eigenen Mannschaft zu verbessern und den Ballvortrag zu erleichtern: Entweder durch seine Anspielbarkeit oder eben durch ausbalancierende Bewegungen, die die Anspielbarkeit seiner Mitspieler gewährleistet/verbessert.

Diese Qualität ist aus meiner Sicht gar nicht hoch genug zu bewerten. Durchschnittlich haben Fußballer während des Spiels nur ungefähr zwei bis drei Minuten den Ball am Fuß. Oder mit anderen Worten: 87 Minuten lang haben sie den Ball nicht am Fuß. Warum sollte sich die Bewertung eines Spielers also einzig auf Aktionen konzentrieren, die nur einen Bruchteil seines Spiels darstellen?

When you play a match, it is statistically proven that players actually have the ball 3 minutes on average. The best players – the Zidane’s, Ronaldinho’s, Gerrard’s – will have the ball maybe 4 minutes. Lesser players – defenders – probably 2 minutes. So, the most important thing is: what do you do during those 87 minutes when you do not have the ball. That is what determines wether you’re a good player or not. (…) The best man in football is the one who’s positioned best. Without the ball.

Johan Cruyff

Wataru Endo ist jedoch nicht der klassische Balance-Spieler, der anderen den Ball überlässt, weil sie damit mehr anfangen können. Mit 55 Pässen pro Spiel bei einer Erfolgsquote von 82,7% ist Endo der Spieler mit den zweitmeisten Pässen bei Stuttgart. Auch hier lohnt sich besonders ein Blick darauf, wie der Sechser überhaupt zu seinen Ballaktionen kommt.

Bewegungsspiel für den Ball

Im Aufbauspiel der Stuttgarter stellt Endo das Bindeglied von der Abwehr zum Mittelfeld dar. Meist bewegt er sich recht nah vor der Abwehr, damit diese ihn auch unter Druck schnell finden können. Dabei achtet der Japaner darauf, sich nicht vertikal auf einer Linie mit dem Passgeber zu positionieren, sondern sich diagonal abzusetzen.

Wataru Endo Porträt

Das erlaubt ihm, während des Ballwegs das Spielfeld zu überblicken und attackierende Gegenspieler in seinem Rücken frühzeitig zu sehen. Außerdem kann er so schneller mit Ball in seine angestrebte Spielrichtung „aufdrehen“, als wenn er sich erst einmal ganz drehen müsste.

Aus diesen tiefen Positionen spielt Endo immer wieder sensationelle Bälle durch die Linien des Gegners.

Dynamik mit dem ersten Kontakt? Warum nicht schon Dynamik vor dem ersten Kontakt?!

Der japanische Nationalspieler unterstützt mit seiner tiefen Position jedoch nicht nur die zentralen Verteidiger, sondern auch die Außenbahn-Spieler Stuttgarts. Hier kommt eine weitere besondere Stärke des Japaners zum Vorschein, mit der er sich von anderen Spielern abhebt: Als große Qualität einiger Akteure gilt, dass sie mit dem ersten Kontakt viel Dynamik aufnehmen können. Das geschieht meist in statischen Szenen und überrumpelt den Gegner.

Endo führt das jedoch nochmal weiter – er nimmt die Dynamik bereits vor seinem ersten Kontakt auf. Während der Pass zum Außenbahn-Spieler der Schwaben unterwegs ist, schiebt der Japaner hoch.  Wenn sein Mitspieler nun den Ball hat, ist Endo immer noch leicht hinter ihm. Spielt der Mitspieler den Pass quer, kann der Sechser mit Tempo in den Ball hineingehen.

Wataru Endo Stuttgart

Das ist sehr gut, weil Endo den Ball so mit Blick und Dynamik zum gegnerischen Tor empfängt und diese nicht erst aufnehmen muss. Dadurch stellt er eine größere Gefahr für den Gegner dar, als wenn er statisch den Ball empfangen würde – der Kontrahent ist also gezwungen, auf Endo zu reagieren. Dies geschieht meist regelwidrig: Nach González ist der Japaner der Spieler bei den Stuttgartern, der am häufigsten gefoult wird (Fünter Platz ligaweit).

Spiel gegen den Ball

Noch wichtiger als seine Rolle in Ballbesitz ist jedoch die Rolle Endos gegen den Ball. In dem meist genutzten 4-1-3-2 Hybrid (oder wie ich es nenne: 4-Endo-3-2) nimmt der Japaner die Rolle als Absicherung vor der Abwehr ein. Dabei ist Endo nicht der klassische Sechser, der immer zentral und eng an seinen Verteidigern agiert. Unter Absicherung verstehen viele Fußball-Anhänger einen Spieler, der sich in einem wichtigen Raum befindet und jeden Ball, der in diesen Raum kommt, gewinnt. Das ist natürlich auch nicht schlecht.

Endo jedoch hat eine eigene Definition des Wortes „Absicherung“: Schließlich kann ich mein Team auch absichern, wenn ich 20 Meter herausrücke und einen Gegenspieler am Aufdrehen hindere.

Hier besteht die herausragende Qualität des japanischen Nationalspielers: Er erkennt früh, wohin der Gegner wahrscheinlich spielen wird und welche Möglichkeiten er in diesem Raum haben wird. Das Ziel von Endo ist dann, den Ballbesitz des Gegners entweder ganz zu verhindern oder seine möglichen Optionen zu minimieren. Die Kunst ist dabei, dem Gegner vor allem die Optionen „abzuschneiden“, die gefährlich sein könnten.

Wataru Endo Sechser

Aber wie macht Endo das? Mit seiner Position vor der Abwehr versucht er prinzipiell, den wichtigsten Raum zu besetzen. Hier soll der Gegner nicht hin- bzw. reinspielen. Wenn der Gegner den Ball nun bspw. quer spielt, ergeben sich neue Passwinkel und somit muss der Japaner seine Position ändern. Um das schnell tun zu können, wählt Endo seine Position so, dass er auf einen möglichst großen Raum Zugriff besitzt. Das erlaubt ihm, schnell auf Veränderungen der Ballposition und -situation reagieren zu können.

Seine Kunst besteht darin, diese wichtigen Räume nicht nur zu verstellen, indem er sich einfach in diesen positioniert. Sie besteht darin, über seine Laufwege und geschicktes Herausrücken diese Räume für den Gegner unbespielbar zu machen, ohne sich selbst in diesen Räumen zu befinden. Stichwort: Deckungsschatten. Endo löst seine Position vor der Abwehr also auf – damit stabilisiert er sein Team defensiv aber, anstatt ihm zu schaden. Dabei ist er unheimlich fleißig: Mit 220 zurückgelegten Kilometern liegt er auf dem fünten Platz in der Bundesliga.

Die hohe Erfolgsstabilität dabei resultiert aus überragender Positionierung, aber auch seinem frühzeitigen Erkennen der Situation. Ist ein Gegenspieler mit dem Rücken zu ihm gedreht, weiß der Sechser, dass der Gegner den Raum, den Endo verlässt, nicht bespielen kann/wird. Daher setzt er den Gegner unter Druck und zwingt ihn so meist zu Rück- oder Querpässen. Auch kleine technische Fehler oder generell Szenen, in der Passempfänger nicht gut angebunden ist, erkennt der Japaner zuverlässig und nutzt diese zum Vorteil seines Teams. Endo gelingt es jedoch nicht nur, gegnerischen Ballbesitz zu verschlechtern, sondern oftmals, ihn gänzlich zu verhindern.

Endo, der Ex-Innenverteidiger

Wataru Endo hält den Gegner nicht nur aus gefährlichen Räumen fern, er kann sich in gefährlichen Räumen auch hervorragend durchsetzen. Mit bisher 310 (!) gewonnenen Zweikämpfen liegt er mit großem Abstand auf Platz 1 in der Bundesliga. Dabei hilft ihm, dass er bis zum Wechsel nach Stuttgart in Belgien und Japan fast ausschließlich als Innenverteidiger eingesetzt wurde.

Quelle: bundesliga.com

Der Japaner zeichnet sich im Zweikampf abermals durch sein gutes Timing, aber auch durch seine Bissigkeit und Koordination aus. Statt zu grätschen, wartet Endo lieber auf eine kleine Unsauberkeit beim Gegner, um seinen Körper zwischen Ball und Gegner zu schieben. Besonders ist hier wieder seine Weiträumigkeit: Endo gewinnt die Bälle eben nicht nur zentral vor der Abwehr, sondern sein Zugriffsradius ist quasi auf dem gesamten Feld.

Diese Weiträumigkeit des Japaners und sein Ziel, den Ballbesitz des Gegners um jeden Preis zu verhindern bzw. unschädlich zu machen, sind wahrscheinlich auch der Grund, warum Endo so torungefährlich ist. Schließlich hat der Gegner nach einem erzielten Tor ja Anstoß, ergo den Ball – und das noch an der Mittelinie! Das kann Endo nun wirklich nicht recht sein.

Gar nicht so schlecht, dieser Endo

Ich habe viel Zeit damit verbracht, nach Statistiken zu suchen, die Endos Wichtigkeit für den VfB Stuttgart untermauern. Auf einige habe ich leider keinen Zugriff, andere passten nicht so gut. Doch dann fiel mir auf, dass Endo in jedem Spiel, was ich von Stuttgart gesehen habe, durchgespielt hat. Und tatsächlich: Der Japaner hat bisher jedes Saisonspiel (auch im Pokal) über die volle Spielzeit absolviert, also noch keine einzige Sekunde verpasst.

Ein Stuttgart ohne Endo konnte ich mir gar nicht vorstellen, weil ich noch kein Stuttgart ohne Endo gesehen habe. Die Qualitäten, die der Japaner in und vor allem gegen den Ball mitbringt, sind für den Aufsteiger absolut unverzichtbar. Das Besondere ist, dass es im Stuttgarter Kader mehrere Spieler gibt, die robuster, schneller, technisch stärker, torgefährlicher und dribbelstärker als Endo sind. Im Passspiel mangelt es teilweise an Präzision und an die Athletik eines Wamangituka kommt er nicht ran (wer tut das schon?)

Aber es ist die Spielweise des Japaners, die es seinen Mitspielern erlaubt, ihre Qualitäten auch zeigen zu können. Ein Mangala oder Castro hätten für ihre überbrückenden Dribblings nicht so viel Platz, wenn Endo ihnen diesen nicht schaffen würde. Dabei glänzen die Ballaktionen des Sechsers selbst ebenfalls mit Intelligenz und Struktur.

Für europäische Fußballfans ist es schade, dass Endo erst 2018 nach Europa und 2019 zu Stuttgart wechselte. Mit inzwischen 28 Jahren ist der Japaner im Stuttgarter Team schon so etwas wie ein Oldie. Trotzdem werden wir noch einige Jahre Freude an dem mannschaftsdienlichen Sechser haben. Denn:

Wataru Endo spielt nicht wie ein Spieler, der der beste Spieler seiner Mannschaft ist – und genau das macht ihn zum besten Spieler seiner Mannschaft. Kevin Kuranyi sieht das auch so.

Sie sehen, dass Stärke, Leidenschaft, Technik und Athletik allesamt sehr wichtig sind. Aber sie sind Mittel zum Zweck und kein Selbstzweck. Sie helfen einem, sein Ziel zu erreichen, das darin besteht, die eigenen Fähigkeiten in den Dienst der Mannschaft zu stellen und damit einen selbst wie auch die Mannschaft stärker zu machen.

Arrigo Sacchi
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