Im folgenden Artikel werden die theoretischen Überlegungen aus dem Artikel „Definition: Einbindung?“ angewendet, um eine Einbindungsanalyse von Insigne bei dieser EM zu erstellen und zu prüfen, ob die theoretische Grundlage sich für die Analyse eignet.
Zusammenfassung: Einbindung
In dem Artikel zu Einbindung wurde die These aufgestellt, dass sich die Einbindung aus allen Zeitpunkten zusammensetzt in denen der Spieler den Ball erhält.

An jeden Zeitpunkt ist eine bestimmte Situation auf dem Platz geknüpft, die sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzt.

Diese Einbindung des Spielers bewertet man dann auf die Wirkung hin

Wenn man diese theoretischen Gedanken anwendet, dann müsste man bei Insigne analysieren, zu welchen Zeitpunkten er den Ball erhält, wie die Situation in diesem Moment ist (und wieso) und welche Wirkung er in diesen Situationen entwickelt.
Insigne in der Grundstruktur
Zu Beginn wird die Grundstruktur von Italien analysiert, damit die Situationen, in denen er den Ball erhält, eingeordnet werden können. Dabei geht es auch um die Frage, was sich aus was entwickelt? Also: Wie entwickeln sich die Situationen (und Strukturen in den Situationen), in denen er den Ball erhält, aus der Grundstruktur?
Grundstruktur Italien
Der Grundaufbau bei Italien ist ein 3-2-4-1/3-1-4-2. Der rechte Außenverteidiger bleibt tiefer und bildet eine Dreierkette im Aufbau. Dadurch kann der linke Außenverteidiger höher schieben und Insigne kann in den Halbraum einrücken. Der rechte Halbraum kann variabel besetzt werden, wobei häufig Barella hochschiebt.

Situativ kann Insigne auch höher stehen, dann entsteht ein 3-1-4-2 mit ihm und Immobile auf der letzten Linie.

Diese Aufteilung sieht man gut in diesem Tweet:
Diese asymmetrische Staffelung dürfte die Grundstruktur mit Ball sein. Innerhalb dieses Musters kann er sich auf verschiedene Arten bewegen.
Insigne im Halbraum
Sein Grundraum ist der linke Halbraum.
In diesem Video sieht man eine klassische Einbindung von Insigne:
Italien bildet eine Dreierkette. Berardi steht breit auf dem rechten Flügel. Barella schiebt in den rechten Halbraum. Chiellini dribbelt an. Locatelli steht mit dem Sechser auf einer Linie und bindet diesen. Außerdem zieht er ihn leicht aus der Kette, sodass der Passweg in den Halbraum frei wird. Insigne bewegt sich dynamisch in den Halbraum. Ergänzend dazu wählt Immobile eine gegensätzliche Bewegung. Er zieht nach außen zum Flügel. Durch das gute Timing der gegensätzlichen Bewegungen muss der Innenverteidiger mitgehen und die ganze Kette muss ein paar Schritte nach hinten gehen. So entstehen Räume im Zwischenlinienraum und der Innenverteidiger kann nicht in den Halbraum rausrücken. Der rechte Außenverteidiger (Nr. 2) muss nun Insigne folgen. Insigne kann sich von ihm wegdrehen und in Richtung Zentrum dribbeln. Es lässt sich grundsätzlich sagen, dass Insigne oft mit seinem linken Fuß den ersten Kontakt macht und den Ball nach rechts legt, um dann diagonal mit dem rechten Fuß zu dribbeln. Die Bewegung von Immobile erlaubt ihm diese natürliche Aufdrehbewegung zu nutzen und gleichzeitig den Effekt zu erzielen, dass er sich von seinem Gegenspieler wegdreht.
In der obigen Szene steht Spinazzola tiefer und kann nicht direkt angespielt werden. Oft steht er aber deutlich höher und passt seine aufrückenden Bewegungen an die einrückenden Bewegungen von Insigne und den Pass in den Halbraum an.
Sieht man in dieser Szene gut:
Insigne ist im Halbraum und erhält den Ball nach einem Pass von Bonucci. In dem Moment hinterläuft Spinazzola. Immobile zeigt wieder die gleiche Bewegung nach außen und bindet den Innenverteidiger. Insigne dreht wieder mit dem linken Fuß nach innen auf, muss sich aber durch das Anlaufen des Sechsers nach außen drehen. Er kann direkt Spinazzola einsetzen, da der rechte Außenverteidiger (aus der Sicht der Türkei) eingerückt ist und es freie Räume am Flügel gibt, in die Spinazzola stößt.
Abweichung in der Entscheidungsfindung, wenn die Innenverteidiger herausrücken:
Wenn sich sein Umfeld verändert und der Innenverteidiger auf Insigne in den Halbraum rückt, dann probiert er den Ball schneller in die Tiefe zu spielen und Immobile im Raum hinter dem Innenverteidiger einzusetzen.
Sieht man hier:
Italien gewinnt den Ball hoch, deswegen rücken die Innenverteidiger mannorientierter heraus, da sie sofort ins Gegenpressing gehen wollen. Insigne dreht deswegen nicht auf, sondern probiert Immobile hinter dem Innenverteidiger einzusetzen.
Positionierung im Halbraum bei Ballbesitz im letzten Drittel
Dadurch dass Italien auf der linken Seite immer einen Spieler breit hat und durch die Abläufe (Insigne einrückend und Spinazzola aufrückend) diese Räume freigezogen und bespielt werden können, kommt es häufig zu Situationen, in denen sie im letzten Drittel breit den Ball haben und sich von dort nach innen kombinieren. In solchen Situationen positioniert sich Insigne meistens in den horizontalen Passwegen ins Zentrum.
In diesem Video sieht man das:
Spinazzola dribbelt den gegnerischen Außenverteidiger direkt an. Dadurch dass er Rechtsfuß ist, kann er aus der andribbelnden Bewegung den Ball ins Zentrum spielen und muss sich den Ball nicht zurücklegen. In dieser Szene stößt Insigne nach und bietet sich für einen solchen Pass an. Er legt den Ball ab und Italien hat die Möglichkeit zu verlagern, was effektiv ist, da sie fast die komplette Breite genutzt haben, aber trotzdem stabile Lösungen finden, um sich vom Flügel zu befreien. Bei diesen Lösungen spielt Insigne eine wichtige Rolle.
Grundsätzlich bewegt er sich in solchen Situationen nicht tief. Er macht selten die Bewegung aus der Schnittstelle zwischen Innen- und Außenverteidiger hinter den Außenverteidiger. Insigne nutzt die Bewegung in die Tiefe nur, um sich Räume im Zwischenlinienraum freizuziehen und diese dann zu besetzen.
Wie in dieser Szene:
Spinazzola dribbelt mit dem rechten Fuß an. Insigne täuscht eine Bewegung hinter die Kette an. Wechselt dann abrupt die Richtung und bietet sich für den horizontalen Pass an. Da er viel Raum hat, sucht er den Pass hinter die Kette. Er kann auch aufdrehen und andribbeln, Pässe hinter die Kette spielen oder verlagern.
Insignes Rauskippen
Aus dem Halbraum heraus kann er sich nach außen zum Flügel bewegen. Diese Bewegung nutzt er, wenn der Ball im ersten oder zweiten Drittel ist, um eine sichere Anspielstation zu schaffen. Aus den seitlichen Räumen kann er dann diagonal andribbeln und Durchschlagskraft entwickeln. Dadurch dass Spinazzola hoch steht, gibt es am Flügel oft freie Räume, die er besetzen kann.
In dieser Szene sieht man das:
Insigne bewegt sich nach einem Klärungsversuch zum Flügel. Spinazzola steht hoch. Er dribbelt dann im Raum zwischen dem breiten Spinazzola und zentraleren Spielern an. Dadurch dass Berardi sehr zentral steht, kann er mit ihm einen schnellen Doppelpass spielen und hinter die Kette kommen.
Hier sieht man nochmal ein ähnliches Muster:
Insigne bewegt sich von innen nach außen, löst sich von seinem Gegenspieler und dribbelt aus dem Raum zwischen dem breiten Außenverteidiger und dem zentraleren Verratti an. In dieser Struktur kann er diese beide Optionen als Bindungspunkte in seinen Dribblings nutzen und Diagonalität entwickeln.
Effekt von dieser Bewegung auf die gesamten Bewegungen: Bei solchen Bewegungen aus dem Halbraum nach außen kann es schnell zu flachen Staffelungen kommen. Dann ist der Flügel doppelt besetzt und die Spieler rücken nicht in den Halbraum nach. Italien nutzt dieser auskippenden Bewegungen von Insigne aber sehr geschickt. Durch die Bewegung nach außen entsteht ein freier Raum, der durch flexibles Nachschieben besetzt werden kann. Die Bewegung von Insigne ist dann ein Trigger oder Anknüpfungspunkt für weitere Bewegung. Es kann (1) der Achter hochschieben also Locatelli oder Verratti. Durch die Bewegung nach vorne werden auch horizontale Pässe freigezogen, die Jorginho besetzen kann. Oder (2) Immobile schiebt leicht zum Halbraum, dann rückt der ballferne Flügelspieler auf die letzte Kette nach. Oder (3) Barella schiebt vom rechten in den linken Halbraum. Situativ kann auch (4) Chiesa oder Berardi nachschieben, wobei man diese Bewegung eher von Berardi gesehen hat, da dieser in engeren Räumen sehr saubere Pässe spielen kann. Chiesa forciert eher 1-gegen-1 Situationen. Wenn Berardi oder Chiesa einrücken, kann im letzten Drittel auf eine Viererkette umgestellt werden und der rechte Außenverteidiger schiebt hoch. Dafür lässt sich dann einer der Sechser fallen und sichert ab.
Insigne am Flügel
In vielen Situationen steht Insigne auch breit. Dabei kann er einfach mit Spinazzola die Position tauschen, dann wählen sie die gleiche Struktur.
In diesem Video sieht man das:
Sie wählen ein typisches Muster, tauschen aber ihre Positionen. Da diese Struktur aus der obigen Grundstruktur entsteht, können sie Räume freiziehen. Spinazzola rückt in die Schnittstelle in der letzten Linie und Insigne bewegt sich von innen nach außen. Der Gegner muss übergeben.
Breite bei Kontersituationen
Ansonsten nutzt Insigne die Breite, wenn Spinazzola tiefer steht und Gegenspieler bindet. Zum Beispiel wenn sie den Ball im ersten oder zweiten Drittel gewinnen und einen Konter starten. Dann bewegt er sich früh nach außen. In Kontersituationen spielt Italien fast immer mit der kompletten Breite. Wenn Insigne nicht nach außen geht, schiebt Immobile zum Flügel.
Hier sieht man die Bewegung zum Flügel in der eigenen Hälfte:
Sie gewinnen den Ball tief. Insigne bewegt sich sofort zum Flügel, erhält dort den Ball und kann die Konter starten. Er provoziert durch die Bewegung nach außen eine Verschiebebewegung, aus den engeren Situationen am Flügel, die dadurch entstehen, kann er sich stabil befreien und auch direkt verlagern.
Diese Szene ist ein weiteres gutes Beispiel:
Spinazzola hat den Ball tief. Meunier rückt auf, dadurch entstehen freie Räume am Flügel in die Insigne sich bewegt. Dadurch dass er nach außen geht, muss der rechte Halbverteidiger (Alderweireld) sich zum Flügel bewegen. T. Hazard auf der ballfernen Seite muss sich in die Kette fallen lassen, um diese Bewegung auszugleichen. Nachdem Insigne den Ball breit bekommen hat, vorderläuft Spinazzola ihn geschickt. Immobile orientiert sich zum Ball und bindet den zentralen Innenverteidiger. Dieser orientiert sich zu spät zu Spinazzola und Insigne kann den Ball hinter die Kette spielen. Auch in dieser Szene sieht man wieder, wie gut Insigne aus diesen seitlichen Räumen für Durchschlagskraft sorgen kann.
Insigne im Zentrum
Insigne kann sich aus seiner Grundposition im Halbraum ins Zentrum orientieren. Er orientiert sich häufig bei Flanken in Richtung des Zentrums. In solchen Situationen schieben die Achter häufig hoch bis in den Strafraum und er bewegt sich dann eher tiefer, um zweite Bälle aufzusammeln und auch aus zentraleren Zonen ins Gegenpressing zu gehen. In den tieferen Zonen wählt er andere Entscheidungen. Er spielt sichere Pässe und geht nicht so oft ins Dribbling. Wenn er ins Dribbling geht, dann eher um seinen Mitspielern die Zeit zu geben eine passende Struktur herzustellen.
In diesem Video sieht man das:
Der Ball ist auf der rechten Seite. Barella und Locatelli stehen sehr hoch. Insigne und Spinazzola schieben weit ins Zentrum. Insigne kann den Ball aufsammeln. Dadurch dass er 5-6 Spieler vor sich hat, trifft er simple Entscheidungen, dribbelt an und verlagert in der zweiten Situation in den ballfernen Halbraum.
In dieser Szene gibt es eine ähnliche Bewegung aus einer veränderten Struktur:
Jorginho lässt sich hinter Florenzi fallen, dadurch kann dieser nach vorne schieben. Berardi rückt ein und Barella schiebt hoch in den Halbraum. Dadurch dass Jorginho seitlicher steht, positioniert sich Locatelli tiefer im Zentrum. Es entsteht ein freier Raum im Zentrum und im linken Halbraum. Insigne passt sich geschickt an diese Struktur an und lässt sich ins Zentrum fallen. Als er den Ball erhält, leitet er wieder einen verlagernden Moment ein und dribbelt dynamisch an.
Orientierung zur letzten Linie
Eine stärkere Orientierung in Richtung Zentrum kann auch entstehen, wenn einer der Achter hoch in den Halbraum schiebt und Insigne aus diesem Raum drückt. Dann positioniert er sich höher auf der letzten Linie und geht in seinen Bewegungen auf Immobile ein. Wenn Immobile sich dann z.B fallen lässt, kann er die Räume hinter ihm mit Tiefenläufe attackieren.
Hier steht Locatelli höher. Es entsteht ein 3-1-4-2:
In dieser Situation steht er mit Immobile auf einer Linie und bewegt sich hinter die Kette nachdem sich der Stürmer fallen gelassen hat:
Aus dieser Struktur (situativ auch unabhängig davon) kann sich ein Positionstausch entwickeln. Dann bleibt Insigne im Zentrum und Immobile kann sich freier bewegen. Er schiebt dann stärker ins Zentrum oder in die Halbräume.
Hier sieht man das:
Immobile lässt sich weit fallen und steht mit Barella auf einer Höhe. Insigne rückt weit ein. Die Türkei verteidigt die Situation mit einem rausrückenden Innenverteidiger und einem einrückenden Außenverteidiger. Celik (Rechtsverteidiger) und Söyüncü (Innenverteidiger) stehen am Ende komplett zentral. Dadurch werden Räume am Flügel freigezogen, in die Spinazzola stoßen kann.
Fazit
Die Einbindung von Insigne ist gut. Fast alle seine natürlichen Abläufe können integriert werden. Er löst viele produktive Bewegungen aus und sie stellen als Mannschaft konstant Situationen her, in denen Insigne eine Wirkung entwickeln kann, ohne dass er die Wirkung der anderen Spieler minimiert. In den vier Spielen dieser EM hat er durchschnittlich einen xG von 0,18 und einen xA von 0,31. Also ungefähr eine erwartete Torbeteiligung von 0,5 pro Spiel. Das sind gute Werte, allerdings hat er in der gesamten Saison einen xG von 0,38 und xA von 0,37 pro Spiel. Er zeigt also eine gute Leistung, kommt aber nicht an die xA- und xG-Werte aus der Liga heran. Um zu beurteilen, ob das etwas mit seiner Einbindung zu tun hat, müsste man seine Einbindung in der Liga analysieren. Grundsätzlich kann man aber sagen, dass seine Spielweise bei dieser EM nicht wirklich über diese beiden Werte erfasst werden kann. Er spielt selten den letzten Pass oder kommt zum Abschluss. Häufig löst er früh Situationen auf, dribbelt an und bewegt sich passend zu den Strukturen oder löst neue Bewegungen aus. So entstehen wirksame Staffelungen, die sie im kollektiv gut bespielen.
Ergänzung:
Reflexion der Form: Grundsätzlich kann man sagen, dass der theoretische Rahmen hilft, da er eine Analyseform vorgibt. Allerdings strukturiert man die Analyse im Endeffekt doch über räumliche Aspekte. Also: In welchen Räumen macht Insigne was? Die Zeit spielt keine große Rolle. Sie ist auf einer theoretischen Ebene interessant, wenn man Einbindung als einen Zeitpunkt + eine bestimmte Situation versteht. Praktisch hat der Begriff allerdings keinen wirklichen Mehrwert, da der Zeitpunkt an sich nichts über die Einbindung aussagt. Trotzdem kann man die Einbindung von Insigne über den theoretischen Rahmen gut erfassen.