Der Schnittstellenpass

Beim weihnachtlichen, besinnlichen Schauen eines der besten Spiele des FC Barcelona unter Pep Guardiola, dem 5:0 über Villarreal vom 30.08.2011, das mich ohnehin in größere Aufregung versetzte als die Bescherung, fing ich an, das Augenmerk an einem gewissen Punkt auf die Frage zu legen: Wie kommt Barça eigentlich zu Torchancen?

Zunächst simpel anmutend, erstreckt sich plötzlich das weite Feld der Taktiktheorie vor einem, in das ich nachfolgend ein wenig einzutauchen gedenke – nicht mit dem Anspruch auf Vollständigkeit sondern zunächst als Denkanstoß.

Was also nun auffällt bei jener schon jetzt nahezu legendären Mannschaft, ist die Art und Weise, wie sie Versuch für Versuch die gegnerischen Linien um- und überspielt; aber auch Fokus und Dynamiken des Gegners im Vorlauf manipuliert, um dann gnadenlos entstehende Lücken mit individuellem und kollektivem Geschick anzugreifen.

Genau jene Lücken in den gegnerischen Verteidigungslinien, bezeichnet man gemeinhin als „Schnittstellen“. Meistens bezieht man sich dabei auf die Verteidigungslinie des Gegners, genauso gut lassen sich aber auch Mittelfeldlücken anvisieren, wie ich es später auch noch kurz tun werde. Das erfolgreiche Bespielen der Lücken geschieht in Form des „Schnittstellenpasses“, den ich mir nachfolgend zunächst in verschiedenen Varianten in Bezug auf die erste gegnerische Linie genauer ansehen werden. Der grundsätzliche Vorteil des Angreifers in der Ausgangssituation ist dabei der grundsätzliche Vorteil, dass er Bewegungen mit Blick zum Tor ausführen kann, während der Verteidiger mit dem Rücken zu selbigem steht. Durch die ungünstige Körperpositionierung des Abwehrspielers ergibt sich gemeinsam mit dem Vorteil des Angreifers, die initiative Auftaktbewegung durchzuführen, ein Geschwindigkeitsüberschuss.

Der Name Michael Laudrup darf in diesem Zusammenhang zum Einstieg nicht fehlen – zeigen Szenen von ihm doch, welche regelrechte Kunstform es ist, diese linienüberwindenden Pässe mit enormer Präzision zu spielen, genau so, dass der oder die jeweiligen Mitspieler im Anschluss noch etwas damit anfangen können. Schnell wird darüber hinaus offensichtlich, welche hohe Stufe des Zusammenspiels und der Synchronität in den Aktionen erreicht werden muss, um Schnittstellenpässe tatsächlich im Kollektiv erfolgsstabil nutzen zu können.

Das alles muss zudem in einer für den Gegner überraschenden Dynamik durchgeführt werden und darf keineswegs statisch enden, was sich dann beispielsweise in einer stumpfen Besetzung der letzten Linie mit möglichst vielen Spielern niederschlagen würde.

Unterscheidung: Position des Angespielten

Zunächst ließe sich auf einen bestimmten Aspekt achten: Wird der Ball in dieselbe Lücke gespielt, an der sich auch der Angreifer orientiert? Dies stellt eine recht simple und zumeist voraussehbare Form dar, weil die meisten Gegner so geschult sind, dass sie den direkten Passweg in solchen Situationen entweder belauern oder gänzlich zustellen. Selbstverständlich können solche Pässe dennoch von Zeit zu Zeit für Gefahr sorgen, wenn sie schnell und somit überraschend erfolgen – etwa auch wenn mehrere Schnittstellen gleichzeitig angelaufen werden und so Entscheidungsschwierigkeiten hervorgerufen werden.

Schnittstellen1

Eine generell überraschendere Variante, welche auch in scheinbar statischen Situationen angewendet werden kann, ist der Lauf durch eine Lücke, die neben der bespielten Schnittstelle liegt. Dieser erfolgt dann zumeist in einem mehr oder weniger ausgeprägten Bogen. In der Regel wird der entsprechende Verteidiger zumindest leicht überrascht reagieren. Zunächst orientierten die meisten Abwehrspieler sich hierbei (innerlich) leicht am Gegenspieler und an der Lücke, in welcher dieser steht. Beim Spielen des Passes wechselt dieser Fokus dann abrupt auf dem Ball, wodurch der zuvor bewachte Mann unbeobachtet im Rücken entschlüpfen kann. Wie im Bild dargestellt, hat dieser wiederum einen Vorsprung gegenüber dem weiter außen in der Kette stehenden Verteidiger. Selbst wenn der Pass dann abgefangen werden sollte, befindet sich der eingelaufene Stürmer in einer guten Position, um sofort in ein rückwärts gerichtetes Gegenpressing zu gehen.

Schnittstellen2

Ein solcher Lauf kann von Außen (auch überhaupt jenseits der gegnerischen Verteidigungslinie) nach Innen, also zum Tor hin, aber auch von Innen nach Außen, also vom Tor weg, durchgeführt werden. Allgemein ist erstere Variante durch den direkten Blick zum Tor von Vorteil. Letztere kann jedoch, insbesondere bei Spielern mit hohem Verständnis untereinander, für überraschende Momente sorgen, die sogar genau so geplant sein können: Überraschende Hackenablagen auf einen zur Mitte hin durchstartenden Mitspieler oder Hereingaben aus einer Drehbewegung, während man eigentlich in Richtung Seitenlinie läuft. Das sah ich zuletzt mal beim Schauen des UEFA Cup-Finals von 1980/81 – führte natürlich direkt zu einem Tor.

Unterscheidung: Orientierung am Durchbruch oder am Tor?

Eine weitere Möglichkeit der Unterscheidung wäre damit bereits angedeutet. Man kann unterschiedliche Fokusse setzen und sich verschiedenartig orientieren. Bei einigen Schnittstellenpässen geht es zunächst einzig und allein darum, überhaupt einen Durchbruch zu erzielen und hinter die Verteidigung zu gelangen. Dies ist in der Regel schon ein Vorteil, der groß genug sein sollte, um für Gefahr zu sorgen.

Andererseits kann es ebenfalls die Intention hinter einem Pass sein, den angespielten Mann direkt in Tornähe anzuspielen, in einer Position, die auf sofortigen Abschluss beziehungsweise zumindest auf das Tor an sich ausgerichtet ist.

In einer weiteren Variante, die man vielleicht am ehesten als „optionsorientierten Durchbruch“ beschreiben könnte, geht es schließlich darum, den Schnittstellenpass so zu spielen, dass direkte Anschlussaktionen in vielfacher Hinsicht gegeben sind: sowohl die Möglichkeit zum Torabschluss als auch zur weiteren Kombination oder ähnlichem. Damit wären wir gewissermaßen wieder bei Laudrup – aber auch bei einer nächsten möglichen Betrachtungsweise.

Unterscheidung nach Räumen

Denn wenn man mit einer Kategorisierung eine Sache eindrucksvoll unter Beweis stellen kann, so ist es die strategische Bedeutung der Halbräume (sowie der Mitte) und die Vorteile im Vergleich zum Spiel über die Flügel.
Hierbei sei zur weiteren Veranschaulichung noch unterschieden zwischen dem Raum, aus dem der Pass gespielt wird und jenem, in welchem er angenommen wird. Dies zeigen die beiden nachfolgenden Grafiken.

Schnittstellen3

Von der Mitte aus kann man vor allem die beiden Halbräume günstig mit diagonalen, leicht zu verarbeitenden Zuspielen erreichen. Die Mitte selbst ist jedoch aus diesen besser zu bespielen, da dies wiederum diagonal geschieht. Ein vertikales Zuspiel in der Mitte ist nicht nur schwer zu verarbeiten sondern meist auch relativ vorhersehbar, sodass der Ball abgefangen zu werden droht. Deutlich zu erkennen: Wenige Optionen am Flügel. Dort wo das Vertikalzuspiel stattfinden könnte, gibt es meist nicht mal eine Schnittstelle. Außerdem ist bei erfolgreichem Zuspiel der Abstand zum Tor oft zu groß, sodass die verteidigende Mannschaft noch eingreifen kann.

Schnittstellen4
Die Anschlussaktionen in der Mitte kann man als größtenteils tororientiert bezeichnen, während Schnittstellenpässe zum Flügel zunächst einmal überhaupt für einen Durchbruch sorgen. Im Halbraum findet beides gewissermaßen zusammen: Der Halbraum ist der Optionsraum, in dem Tor- und Durchbruchsorientiertheit am ehesten vereint sind. Möglicherweise ergibt hier eine weitere Differenzierung in äußeren und inneren Halbraum Sinn, da sich je nachdem die Tendenz etwas unterscheidet.

Einordnung

Abgeleitet aus der vorherigen Betrachtung der unterschiedlichen Räume lässt sich zum Beispiel schlussfolgern, dass das fokussierte Spiel über die Flügel eher schnittstellenvermeidend ist, da man meistens außen an der Verteidigungslinie vorbei spielt, statt Lücken innerhalb von ihr zu suchen. Eine Ausnahme stellen hier Sechser- und mit Abstrichen auch Fünferketten dar, welche die Breite insgesamt besser abdecken, aber aufgrund von mehr Spielern auch eine höhere Zahl an Schnittstellen offenbaren.

Das Spiel durch Schnittstellen tritt folglich insbesondere bei Teams mit Fokus auf die zentraleren Zonen auf. Marco Henseling und René Maric unterscheiden in „Fußball durch Fußball“ (Rn. 97) zwischen „gegnerorientiertem“ und „selbstorientiertem Vertikalspiel“ und weisen darauf hin, dass das Ballbesitzspiel dabei in keinem direkten Gegensatz zum Konterspiel steht, wobei die selbstorientierten Variante meist mit einem eher ruhigen Rhythmus einhergeht. Eine Mischung aus beiden Elementen scheint somit für Teams unterschiedlicher Stile sinnvoll und auch ein guter Ausgangspunkt für das Bespielen (und gegebenenfalls vorherige Öffnen) von Schnittstellen.

Einzelne Varianten davon ergeben sich dann schließlich aus der jeweiligen Mannschaftscharakteristik und in Bezug auf den Gegner, was ein einzelnes Aufzählen allzu mühselig und wenig spezifisch macht. Vielmehr möchte ich noch kurz auf einige Ideen zu sprechen kommen, bevor die Wichtigkeit der Trainingsmethodik im Mittelpunkt steht.

Besonderheiten und Anwendungsideen

Die Möglichkeit, mit vergrößerter Effektivität Lupfer gewinnbringend einzusetzen ergibt sich indirekt aus einem wie auch immer gearteten Schnittstellenfokus, da dieser das Zusammenziehen des Gegners provoziert. Lupfer können diesen Fokus ideal bespielen, indem man mit ihnen (bogenförmige) Läufe um die gegnerische Formation herum überraschend einbinden kann in Situationen, die dem Gegenüber Sicherheit suggerieren. Auch schützt man sich dabei davor, als Reaktion möglicherweise in einen allzu großen Flügelfokus zu verfallen, der über die Funktion des Ausweichraumes hinausgeht – je nach Rhythmus wären überhastete Linienpässe oder Isolation die Folge.

Schnittstellen5

Lupfen…jetzt!

Weitere mehr oder weniger kurios anmutende Vorschläge:

  • Andribbeln auf die Kette und bewusstes Nutzen von Tunnelpässen als eine andere Art des Schnittstellenpasses, gewissermaßen ohne tatsächlich vorhandene Schnittstelle
  • Statisches Besetzen einer Lücke durch einen Spieler, der diese entweder plötzlich für einen dynamisch hinter ihn startenden Spieler freiräumt (bei Manndeckung) oder den Ball einfach durchlässt (bei gewissen Arten der Raumdeckung)

Bei Schnittstellenpässen und Lupfern hinter die Verteidigungslinie sollte man zudem die Abseitsregel als entscheidenden Umstand im Hinterkopf behalten, sowohl als begrenzenden Faktor als auch für die Entwicklung eigener Taktiken. Zumeist steht der anzuspielende Akteur aufgrund der Abseitsregel entweder vor oder maximal auf Höhe der Schnittstelle, wenn der Pass erfolgt. Spielt man nun gegen ein mannorientiert verfolgendes Team, kann man sich diesen Umstand zunutze machen, indem ein anderer Spieler fernab der eigentlich anvisierten Schnittstelle in die Tiefe startet. Wenn ein Gegenspieler ihn verfolgt, nutzt man das einfach, indem der tatsächlich Anzuspielende schon vor dem Anspiel etwas in den Raum hineingeht und so optimalerweise ein kleiner Vorsprung oder zumindest größere Nähe zum Tor entsteht.

Bei Pässen hinter die Mittelfeldlinie spielt das Abseits dementsprechend keine Rolle, was grundsätzlich das Anbieten mit einer „tief-kurz“-Bewegung eher ermöglicht, zusätzlich zur entgegengesetzten Variante. Auf dieser Ebene kommen Schnittstellenpässe immer häufiger in Form der sog. „Laserpässe“ vor, die wir irgendwann sicherlich auch noch mal genauer behandeln werden.

Generell wirken auch hier die zuvor ausgeführten Vorteile der Diagonalität und des Halbraums. Es zeigt sich die Schwäche des lediglich auf die Horizontale und Vertikale ausgerichteten Verschiebens und der so interpretierten Formationen. Im Extremfall kann dies sogar wie in der Grafik dazu führen, dass mit einem diagonalen Pass gleich zwei Schnittstellen auf zwei unterschiedlichen Ebenen bespielt werden können.

Schnittstellen8

Zugegeben: Ein Extrembeispiel. Aber Busquets kann das (wie fast alles andere auch). Siehe Video unten, gefunden von Burrinho, unserem Busquets.

Umsetzung im Training als Fazit

Wie bei allen Formen des Zusammenspiels innerhalb der Mannschaft sollte darauf geachtet werden, dass diese nicht allzu mechanisch und eingeschliffen daherkommen, sondern immer möglichst aus der Situation heraus entstehen. Dies wird durch das Training in diversen Spielformen ausdrücklich gefördert.

Generelles Bewusstsein für Schnittstellen schaffen vor allem Spiele, bei dem man ähnlich wie im American Football Endzonen erreichen muss, um einen Punkt zu erzielen.

Für das Überspielen der Mittelfeldreihe lässt sich in einem 4vs4+4 zum Beispiel eine Viererkette in einer zuvor abgesteckten Mittelzone positionieren. Sie muss versuchen, Schnittstellenpässe abzufangen und anschließend zu kontern. Dafür können an beiden Enden Minitore aufgebaut werden. Für die Mannschaft, die in diesem Fall den Fehlpass spielt, ist wiederum ein schnelles Zurückerobern des Balles enorm wichtig. Implizit wird so direkt ein Zusammenhang zwischen Schnittstellenpässen und Gegenpressing hergestellt. Es wird gezeigt, dass Fehlpässe in solchen Situationen mitunter unvermeidbar sind, aber nicht das Ende des eigenen Angriffs bedeuten müssen. Man kann die Übung entsprechend noch abwandeln, um eine höhere Dynamik ins Passspiel der ballbesitzenden Mannschaft zu bringen, indem man vor Überspielen der Mittelzone ein Rondo im 4vs2/5vs2 spielt. Über entsprechendes Coaching kann ein gewünschter Stil hervorgehoben werden (gegnerorientiert/selbstorientiert).

Schnittstellen6

Auch das Bewusstsein für die Wichtigkeit gewisser Räume kann über einfach aufgebaute Spielformen gefördert und herausgebildet werden. Beispielsweise lässt sich ein Spiel zwischen Angriff und Verteidigung etwa im 6vs6 initiieren, bei dem Pässe in eine zentrale Zone innerhalb des Strafraums kommen müssen, aber nur aus links und rechts im Halbraum markierten Feldern gespielt werden dürfen.

So wird der Fokus auf Diagonalität und Zug zum Tor gelegt. Selbiges lässt sich auch einfach mit anderen Zonenvorgaben durchführen und mit zusätzlichen Regeln dem eigenen Stil anpassen. Präferiere ich z.B. das ruhigere Ballbesitzspiel, muss die angreifende Mannschaft erst eine festgelegte Anzahl von Pässen gespielt haben, ehe der Diagonalpass erfolgen kann. Außerdem kann die Spielerzahl variiert und in Form von Über-/Unterzahl gestaltet werden. Die jeweilige Absicht des Trainers unterstreicht dieser erneut jeweils durch sein Coaching. Selbstverständlich gilt die Abseitsregel.

Schnittstellen7

Allgemeine Grundlage für den Fokus auf Schnittstellenpässe bieten dabei (wie für überhaupt alles!) kleinräumige Spielformen, z.B. Positionsspiele. Wer modernen Fußball spielen will, sollte vor allem vermitteln: Keine Angst vor engen Räumen.

Über Eduard Schmidt

Für mehr (post-) modernen Fußball! Für mehr durchdachten taktischen Mut! Wir haben das noch nie so gemacht - lasst es uns versuchen. Twitter: @EduardVSchmidt
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