In diesem Artikel soll das Denkmodell zur literarischen Evolution von Tynjanov auf den Fußball übertragen werden. Im ersten Teil des Artikels wird Tynjanovs Ansatz vorgestellt. Im zweiten Abschnitt soll dieser an den Fußball angepasst werden. Weiterführende Gedanken von Tynjanov werden im dritten Abschnitt aufgegriffen.
1. Jurij Tynjanov: Über die literarische Evolution
In dem Text Über die literarische Evolution (1927) entwirft Tynjanov ein theoretisches Modell, das es möglich machen soll Literaturgeschichte zu betreiben und somit (1) literarische Veränderungen und (2) die Entstehung literarischer Erscheinungen zu analysieren und zu bestimmen. Dieses Modell muss innerhalb eines großen Rahmens kleinteilige Erscheinungen wahrnehmen können. Um das zu gewährleisten, arbeitet er mit einer klaren Sprachen, die eine Grenzziehung zu lässt und Teilbereiche schafft, die verglichen werden können. Seine Grundthese ist, dass man die Literatur nur über die Funktion der einzelnen Elemente versteht. Die Form der Elemente werden erst auf einer zweiten Ebene wichtig.
Daher muß auch der Vergleich bestimmter literarischer Erscheinungen anhand von Funktionen und nicht allein anhand von Formen gezogen werden. Die dem Aussehen nach nicht im geringsten ähnlichen Erscheinungen verschiedener funktionaler Systeme können ihren Funktionen nach ähnlich sein, und umgekehrt.
Tynjanov: Literarische Evolution in Texte der russischen Formalisten von Jurij Striedter (S. 459)
Sein Modell setzt sich grob aus folgenden Grundbegriffen und Überlegungen zusammen:
- Literatur als Gesamtes ist ein System.
- Das literarische Werk ist ein System.
- Ein literarisches Werk ist immer Teil einer literarischen Reihe.
- Ein System setzt sich aus Elementen zusammen.
- Jedes Element hat eine Funktion. Die Korrelation zu anderen Elementen und zum Ganzen System ist die konstruktive Funktion.
- Jedes Element hat eine Auto- und Synfunktion. Autofunktion = die Funktion des Elements in unterschiedlichen Systemen. Synfunktion = die Funktion des Elements in einem System. Zum Beispiel: Ein Komma hat in den meisten Systemen die Autofunktion zwei Sätze voneinander zu trennen. In einem bestimmten System kann es aber auch einen bestimmten Leserhythmus herstellen oder andere Funktionen haben (Synfunktion).
- Die Autofunktion eines Elements versteht Tynjanov als Möglichkeit, es muss nicht auf die Autofunktion eines Elements zurückgegriffen werden.
- Die Funktion eines Elements lässt sich nur über das System bestimmen. Das Element kann nicht getrennt davon gedacht werden.
- Alle Systeme und Elemente stehen in einer Wechselbeziehung. Diese Wechselbeziehungen müssen von nah zu weit analysiert werden.
2. Wie lässt sich das auf den Fußball übertragen?
Was muss angepasst werden?
Grundsätzlich analysiert man im Fußball mit einem anderen Ziel. Die Fußballgeschichte und die taktischen Entwicklungen sind spannend, aber für einen Fußballtrainer nicht besonders relevant. Man analysiert mit dem Ziel bestimmte Aspekte, die nicht erfolgreich sind auszutauschen oder Elemente zu entwickeln, die gegen einen bestimmten Gegner erfolgreich seien können. Es muss also die Effektivität von einzelnen Teilaspekten des Spiels bestimmt werden. Insofern geht es nicht wie bei Tynjanov um eine Beschreibung sondern um eine Bewertung. Diese Ebene muss ergänzt werden. Man hat ein Element, eine Funktion und die Wirksamkeit dieses Elements. Da die Effektivität des einzelnen Elements über das System und seine Teilsysteme bestimmt werden kann, rückt die Beschreibung des Gesamten in den Hintergrund.
So könnte man das Modell übertragen:
- Fußball als Gesamtes ist ein System.
- Es besteht aus mehreren Teilsystemen (Mannschaften).
- Zwei Systeme treffen im Spiel aufeinander. (Spiel)
- Das System Mannschaft setzt sich aus elf Teilsystemen zusammen (Spieler). Der Spieler ist ein Element der Mannschaft und hat in diesem System eine Funktion.
- Das System Spieler bestehet aus verschiedenen Elementen, die ebenfalls eine Funktion im System Spieler haben und seine Funktion im System Mannschaft prägen.
- Folgende Grenzen könnte man ziehen: System Fußball -> (System Spiel) -> System Mannschaft -> System Spieler. Alle Systeme sind Elemente des vorherigen Systems und stehen in einer Wechselbeziehung.
- Die Wechselbeziehungen müssen von nah zu weit analysiert werden. Funktionen der Elemente innerhalb des Spielers -> Funktion des Spielers innerhalb der Mannschaft -> Funktionen aller Spieler innerhalb der Mannschaft -> Funktionen aller Spieler beider Mannschaften -> Funktionen des Spiels innerhalb einer Reihe im System Fußball -> die Reihe innerhalb des Systems Fußball.
Diese grobe Einteilung würde entstehen, wenn man Tynjanovs Sprache und Grenzziehung übernimmt. Was würde das konkret für die Analyse bedeuten?
Genau genommen darf es keine Untersuchung der literarischen Erscheinungen außerhalb ihrer Korrelationen geben.
Tynjanov: Literarische Evolution in Texte der russischen Formalisten von Jurij Striedter (S.447).
Das Kleinste kann nur über das Gesamte verstanden werden. Außerdem tritt die Form in den Hintergrund und die Funktion des Spielers wird wesentlich. Alle Auswirkungen verschiedener Elemente auf die Form sind sekundär. Es entsteht eine Hierarchie.
Interessant ist auch die Übertragung von Auto- und Synfunktion auf den Spieler. Man könnte den Spieler über Tynjanov als ein System verstehen, was über bestimmte Möglichkeiten verfügt von denen es aber nur einen Teil innerhalb des Systems Mannschaft entwickelt. Diese Unterteilung ist gerade im Zusammenhang mit dem Thema Einbindung spannend.
Außerdem kann man durch die Übertragung von Tynjanovs Modell Grenzen und Verbindungen ziehen. Diese Verbindungen wurden oben bereits angeschnitten, werden aber nochmal kurz dargestellt:
- Verbindung: Elemente -> Elemente im System Spieler.
- Verbindung: System Spieler -> System Spieler im System Mannschaft
- Verbindung: System Spieler -> System Mannschaft
- Verbindung: System Mannschaft -> System Mannschaft
- Verbindung: System Spiel -> innerhalb einer Reihe
- Verbindung: Reihe -> System Fußball
Durch die Grenzziehung können die abgegrenzten Bereiche miteinander verglichen und ihre Abhängigkeit voneinander untersucht werden. Das versteht Tynjanov als eine Analyse der Korrelationen.
Wie könnte eine Analyse aussehen?
Analyse: System Sané im System Mannschaft
Man könnte analysieren, wie häufig Sané Funktion Gegner überspielt in seinem Spiel hat. Also von X Elementen haben X Elemente die Funktion Gegner überspielen (ist ein Element = eine Aktion?). Dann könnte man analysieren wie häufig diese Funktion auftritt je nach Umständen. Konkret: Wovon ist es abhängig, wie oft Sané die Funktion Gegner überspielen in seinem Spielt hat? In dem man die Abhängigkeiten kennt, kann man die Umstände analysieren, die bei Sané die Funktionen provozieren, die den größten Output (xG) der gesamten Mannschaft garantieren.
Die Analyse ist natürlich sehr abhängig davon welche Funktionen man bestimmten Elementen zuordnet. Dafür müsste man die Grundfunktionen, die ein Spieler in einem Spiel bedient, herausarbeiten. Außerdem kann man von der Phrase Gegner überspielen, darauf schließen, dass die Sprache des Fußballs sich häufig über die Form und nicht die Funktion bildet. Theoretisch kann die Funktion Gegner überspielen eine Form haben, die nicht das überspielen ist. Diese starke Bindung der Sprache an die Form könnte problematisch sein, wenn man Funktionen bestimmen und benennen will.
3. Ergänzende Gedanken
Form und Funktion
Das evolutionäre Verhältnis von Funktion und formalem Element ist eine völlig unerforschte Frage. Ich führte ein Beispiel an, wie die Evolution der Formen eine Veränderung der Funktionen bewirkt. Die Beispiele, wie eine Form mit unbestimmter Funktion eine neue hervorruft, sie bestimmt, sind zahlreich. Es gibt auch Beispiele anderer Art: die Funktion sucht sich ihre Form.
Tynjanov: Literarische Evolution in Texte der russischen Formalisten von Jurij Striedter (S.447).
Tynjanov stellt sich der Frage, ob die Form zu einer Funktion führt oder die Funktion zur Form. Er findet für beide Prozesse Beispiele. Eine ähnliche Frage kann man sich auch im Fußball stellen.
Über das Verhältnis von Form und Funktion lässt sich sagen, dass es im Fußball mehr Formen als Funktionen gibt. Jeder Spieler entwickelt innerhalb eines bestimmen Rahmens sehr individuelle Formen, die aber an gleiche Funktionen geknüpft sind. Man könnte argumentieren, dass es weniger Funktionen als Formen gibt, da es ein klares Ziel gibt und das Ziel an sich nur eine begrenzte Anzahl an Funktionen produziert. Funktionen, die im Hinblick auf das Ziel nicht produktiv sind, werden abgeschliffen und umgeformt.
Man könnte daraus schlussfolgern, dass es beim Fußball von der Funktion zur Form läuft. Der Spieler trifft zu erst eine Funktionsentscheidung und an diese Entscheidung kann er dann individuell und flexibel eine Form anknüpfen. Da verschiedene Formen zu einer Funktion passen, hat er bei dieser Entscheidung einen größere Anzahl an Entscheidungen, die erfolgreich wären.
Man könnte aber auch gegensätzlich argumentieren, dass ein Spieler eine hohe Anzahl an Formen abrufen muss, um überhaupt bestimmte Funktionen zu erfüllen. Also: Die Anzahl der Funktionen, die ein Spieler erfüllen kann, sind abhängig von den Formen, die seine Elemente haben. Wenn man so denkt, interpretiert man die Form als etwas, dass die Funktionen stark begrenzt und somit die Funktion vorgibt. Dann suchen sich Funktionen Formen und der Entscheidungsprozess müsste von der Form zur Funktion laufen. Beides ist noch nicht zu Ende gedacht, um das zu tun, müsste man Element, Funktion und Form im Fußball genau definieren.
In diesem Abschnitt wird der Formbegriff sehr stark als etwas körperliches dargestellt. Das müsste man nochmal prüfen.
Absicht des Autors und schöpferische Notwendigkeit
Die konstruktive Funktion, die Korrelation der Elemente innerhalb des Werks, verwandelt die „Absicht des Autors“ in ein Ferment, und nicht mehr. Die „schöpferische Freiheit“ erweist sich als optimistische Losung, entspricht aber nicht der Realität und macht der „schöpferischen Notwendigkeit“ Platz.
Tynjanov: Literarische Evolution in Texte der russischen Formalisten von Jurij Striedter (S.453).
Diese Feststellung ergibt sich zwingend aus dem Modell von Tynjanov. Wenn man sie auf den Fußball überträgt, kann man sagen, dass jeder Entscheidung eines Spielers eine Absicht und eine Notwendigkeit untergeschoben ist. Diese Unterscheidung könnte spannend sein, da man dann konkret herausarbeiten könnte, inwiefern und wie oft ein Spieler von seiner Absicht abweicht. Wobei das relativ schwer zu greifen sein wird, man könnte aber spezifischer analysieren, welche seine Aktionen durch andere Elemente des Systems provoziert und vorgeschrieben werden und welche er selbständig trifft. Darüber lassen sich beim Fußball viel genauere Aussagen treffen als in der Literatur, dementsprechend könnte diese Unterteilung fruchtbarer sein.
Dominante der Elemente
In Anbetracht dessen, daß das System keine gleichberechtigte Wechselwirkung aller Elemente bedeutet, sondern die exponierte Stellung einer Gruppe von Elementen (die „Dominante“) und die Deformation der übrigen Elemente voraussetzt, (…)
Tynjanov: Literarische Evolution in Texte der russischen Formalisten von Jurij Striedter (S.451).
Diese Aussage passt zu dem vorherigen Abschnitt. Tynjanov stellt die These auf, dass es Elemente gibt, die dominanter sind und die stärker auf andere Elemente einwirken. Es könnte interessant sein, Elemente in verschiedenen Systemen daraufhin zu untersuchen. Welche Elemente wirken stärker auf andere ein? Konkret: Welche Bewegungen lösen Bewegungen aus? Welche Bewegungen fordern konstant andere Bewegungen? Welche Bewegungen provozieren die wenigsten Reaktionsbewegungen? Welche Hierarchie kann man herstellen?
Mögliche Konflikte in der Übertragung?
Konflikte könnte es bei der Bestimmungen der Funktionen geben und es wird auch schwierig die Form aus der Sprache des Fußballs zu isolieren. Darüber hinaus könnte es generell schwierig Aussagen über den Fußball zu machen, wenn man die Form aus der Analyse kürzt.
Außerdem hat das Wort System hat im Fußball bereits eine feste Bedeutung hat. Dementsprechend kann es zu Überschneidungen und Missverständnissen kommen.
4. Fazit
Die Anwendungen könnte sinnvoll sein. Es wird eine klare Sprache übernommen, die es erlaubt eindeutige Grenzen zu ziehen und konkret nach bestimmten Sachverhalten zu fragen. Diese Konkretisierung führt dazu, dass man bestimmte Analyseformen herausarbeiten könnte, die über eine klassische Mannschaft-, Gegner-, Spieler- und Spielanalyse hinausgehen. Allerdings muss man das Modell erst im Konkreten anwenden, um über die praktische Ebene die Theorie zu reflektieren. In der Anwendung kann man dann die Funktionen herausarbeiten und bestimmte Begriffe anpassen. Was ist z.B konkret ein Element eines Spielers? Ist ein Element = eine Aktion oder kann man mehrere Aktionen zu einem Element zusammenfassen? Diese Fragen müssen weiter vertieft werden.
Außerdem muss die Wechselwirkung zwischen Form und Funktion untersucht werden und es muss erprobt werden inwiefern der Fußball die Analyse der Form braucht.